Historie

  Geschichten aus dem Soerser Hinterland Aachen´s

Geschichte entsteht immer aus Geschichten, die man sich über die Handlung von Menschen in der Gesellschaft erzählte. In der Presse des heutigen Medienzeitalters kolportiert man zuerst ein Gerücht, bis die Wahrheit daran an den Tag kommt und die Angelegenheit als bedeutende Tatsache in die Geschichte eingeht.
 
Drei Beispiele aus der Soers mögen diese These beleuchten.
 
    Talbothof 42                      Platz des früheren Schwimmbads                                          Baumallee am Tivoli
 
Freiheitsdrang 
Das Klosterleben in  St. Raphael hat nach über 100 Jahren segensreichem Tun in der Soers durch Wegzug der Schwestern 2006 ein Ende gefunden. Dadurch ist eine bedeutende soziale Einrichtung historisch "zu Stein erstarrt", d.h. die Mauern künden dem sensiblen Betrachter das vielfältige Wirken der Schwestern für die jungen Mädchen, die in diesem Fürsorgeheim ihre Heimat fanden und vor allem das Schwimmbad hinter der Kapelle liebten. Hört man heute einem Zeitzeugen wie dem noch in der Soers wohnenden, ehemaligen Dorfpolizisten Winkler zu, dann erzählt er z.B. die öfter geschehene Verfolgungsjagd, die er stets erfolgreich abschloß, wenn er von den Schwestern über die Flucht eines der Mädchen wieder einmal informiert wurde. Er wendete dann stets dieselbe Taktik an: Fußmarsch über den Lousberg zum Bend, wo er bald nach Durchsuchen aller Schaustelleretablissements das sein vermeintliches Glück suchende Mädchen fand und in den "Schoß" der klösterlichen Heimat zurückbrachte. Weil sich dieses Ritual öfter wiederholte, kam für diesen "Insider" als Polizist und Zeitzeugen klar zum Ausdruck, welche Bedeutung diese Ordensarbeit über lange Zeit für die Gesellschaft hatte.
 Am Schwimmbad St.Raphael
 
 
Bauwut 
Geschichten können unter die Haut gehen!  Am 24.2.2008 gegen  13,30 Uhr konnte man in der dann schon ehemaligen Baumallee hinter dem Restaurant "Zweistromland" an der Krefelder Straße folgende Begegnung miterleben: Alemannia-Fans strömen vom unteren Soerser Weg, wo sie ihre Autos parken, durch den Pfad zwischen den Kleingartenanlagen "Groß Tivoli" und "Roland" entlang des Reitturniergeländes zum alten Alemannia-Stadion an 300 gefällten Bäumen vorbei. Diesen Massen begegnet eine Hand voll Kunstinteressenten, die in umgekehrter Richtung "gegen den Strom schwimmend" auch an den 300 gefällten Bäumen vorbeischleichen auf dem Weg zum letzten Lebenstag der Kleingartenanlage "Roland", den Künstler dort mit Installationen in den verlassenen Gärten begehen. Was mag die Menschen in beiden Bewegungen wohl bewegt haben angesichts der 300 toten Bäume, die ihr Leben für den neuen Tivoli lassen mußten  -  genauso wie für dieses Ziel 150  der 80 Jahre alten Kleingärten verlassen werden müssen?  Die Fußballfans  werden sich vielleicht gefreut haben: "Endlich beginnt der Neubau!"  Die Kunstfans werden mit den Kleingärtnern traurig und leise den Abgesang des Roland-Liedes angestimmt haben. - Beide Begegnungs-Menschengruppen haben Geschichte hautnah erfahren, weil in dieser Gegend mitten in der Soers an diesem Tag alte Gewohnheiten zu Historie wurden, damit neuen Entwicklungen Platz gemacht wird.
 Sportpark Soers Tivoli
 
 
Talbot-Hierarchie 
Ulrich Claßen erzählt die Geschichte der Ansiedlung seines Patenonkels Ulrich Franck auf dem Talbothof vor rund 75 Jahren und kennzeichnet heute damit gleichzeitig Industriegeschichte: Geheimrat Gustav Talbot, der Inhaber der Waggonfabrik Talbot, stiftete 1932 die finanziellen Möglichkeiten zur Eigenheimbildung seiner wichtigsten Mitarbeiter. 1935 waren die ersten Doppelhäuser von drei unterschiedlichen Bautypen bezugsbereit. In die oberste Reihe mit angrenzendem Kontakt zur Jennes-Wiese und zur Buchenallee zogen nur Prokuristen ein. In der mittleren Reihe wohnten gemäß dem damaligen Hierarchieprinzip nur Ingenieure, während die unterste Reihe Meistern vorbehalten war. - Warum aber dürfte damals von Anfang an Ulrich Franck, der Heizer bei Talbot in das Haus mit der heutigen Hausnummer 42 einziehen, also unstandesgemäß in der ersten Reihe ? Keine Regel ohne die Ausnahme, denn Franck war des Geheimrats privates Faktotum, um im Gut bei Köpfchen nach dem Rechten zu sehen. Genau wegen der dabei erworbenen Verdienste beauftragte Talbot seinen Heizer als Arbeiter mit einer Art Hausmeisterdienst auf dem neuen Talbothof. - Beim Rückflug von einer Bombenattacke im Osten Deutschlands klinkte ein alliiertes Flugzeug kurz vor Kriegsende eine Restbombe aus, um Gewicht zu sparen für den Rückflug - genau über Franck´s Haus als strategisch völlig unwichtigem Ziel ein Volltreffer! Nach dem Krieg machte sich Ulrich Franck mit seinem Verwandten Alfred Franck als rechter Hand  ( nämlich mit Führerschein ) selbständig als Schlosserei und arbeitete viel für Soerser Färbereien. Im Keller des wiederaufgebauten Hauses kann man heute noch die Werkbank sehen, auf der geschweißt, gehämmert und geschraubt wurde, natürlich auch als Haus- und Hoflieferant-Schlosser für Talbot.
 
      
Haus Franck am Talbothof 42 vor der Zerstörung 1942
 
 Entwicklungslinien
Das Aachener Reich nutzte sein Soerser Hinterland nicht nur zur Versorgung der Bevölkerung, sondern auch zu ihrer Verteidigung. Wehrtürme als Außenstellen der ersten Feindsberührung finden sich noch heute bei Schloß Rahe und Beulardstein. Wehrhafte Pfalzgüter der Karolinger Zeit wie Gut Hausen, das Soerser Haus und später hinzukommend die Güter Poch, Bau, Scheuer und Kuckesrath „hielten die Stellung“ bis heute. Einige ehemalige Höfe wurden im 19. Jahrhundert zu Herrenhäusern umgenutzt, wie z.B. Ferber, Obere Müsch und Soerser Hochkirchen. Teiche wie an der Stockheider Mühle und an der Soerser Mühle waren als Färbereiwasser-Sammelbecken gedacht, wenn sie auch ursprünglich eher der Fischzucht dienten. Mühlenantriebswasser floss mit dem Wildbachgefälle eher zu langsam für ökonomische, gewerbliche Anwendungen. Tuchherstellung mit wasserintensiver Ausrüstung geschah bis 1901 in dem typischen Fabrikhochbau für Wollstoffproduktion „St. Raphael“ (mit ihrer Ausrüstung und Färberei in der Haumühle am Münsterbach) und in der unter Denkmalschutz stehenden Baumwoll-Kratzentuchfabrik Sartorius. Mancher Aachener spricht von "Tuchfabriken am Wildbach", die er dort gekannt zu haben glaubt. Es gab aber direkt am Wildbach nirgendwo die typischen Aachener Woll-Tuchfabriken des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, sondern nur Unterabteilungen des Sammelbegriffs "Tuchfabrik" wie z.B. Spinnereien für Wolle oder Färbereien und Ausrüstungsbetriebe ( Walken, Waschen, Trocknen, Rauen, Scheren, Dekatieren ). Der Wildbach zog diese Produktionsabteilungen der Tuchfabriken in Aachens Zentrum in die Soers wegen ihres wertvollen Wildbachwassers.

Für die Aachener Industrie dienten Weidenruten von Kopfweiden geschnitten zu Korbflechtzwecken. Die Rahe-Mühle war lange Zeit eine wichtige Getreidemühle, die zu den Abnehmern der Korbwaren zählte. Weißdornhecken dienten zur Einfriedung und Abzäunung von Besitz, was auch für die ehemaligen Ziegeleien in der Soers zutraf.

Die natürliche Wiesen-Auen-Idylle ergänzte Menschenhand durch das Anlegen von Hausgärten und hofnahen Streuobstwiesen, einen Schlosspark Rahe, einer mit Graben umgebenen barocken Gartenparterre hinter Soerser Hochkirchen, mit dem Potager bei Beulardstein und Alleenresten gegenüber Gut Ferber. Die Parkanlage der Tuchfabrikanten von „St. Raphael“ unterhalb des Lousbergs war eine heute viel beachtete „ferme omée“-Anlage mit Alleen, Pavillions, Weihern und seltenen Baumarten, womit man öffentlich sein Wohlergehen darstellte.

Diese aus heutiger Sicht Industrie-Folge-Landschaft ist geprägt von manchen Einzeldenkmalen, die zusammenhängen mit landschaftlichen Merkmalen wie Hecken, Weiden und Bachläufen. Diese Spuren anthropogenen Wirkens dokumentiert die Soers in ihrer Vielschichtigkeit historisch eindrucksvoll, was dem heutigen Menschen insofern eine neue Nutzlandschaft übermittelt hat, als er das noch übrig gebliebene Natural zur Naherholung genießen kann.

 
Ein Färberbach ändert sein Gesicht

Wenn man die Attraktivität des Wildbaches für Industrieansiedlung während des ausgehenden Mittelalters, also Ende des 18. Jahrhunderts richtig einordnen will, muss man vorerst die damals geradezu widerlichen Verhältnisse in der Reichsstadt Aachen die klassische Tuchherstellung betreffend umschreiben.
1. Es ging in Aachen zünftig zu, d.h. die Willkürherrschaft der Zünfte machte eine flexible (marktgerechte) Tuchmanufaktur im Verlegersystem unmöglich.
2. Katholischer Konservatismus behinderte die Religionsausübung fortschrittlicher protestantischer Unternehmer bis hin zu körperlichen Attacken, weshalb es z.B. Clermont nach Vaals im wahrsten Sinne des Wortes "verschlug".
3. Umweltprobleme beim Waschen der Wolle (Gestank der Mischung aus Wollfett, Urin und Schwefelwasserstoff) wie auch Bäche mit geringer Fließkraft behinderten die für die Wollveredlung nötigen Nassprozesse.
4. Luxuriöse Bauten der Badezentren in Aachen und Burtscheid vertrugen sich auf Dauer nicht mit den für rationelle Fertigung eigentlich nötigen Zweckbauten der Tuchfabriken.
Aus diesen Gründen gab es Auswanderungen von Facharbeitern z.B. nach Stockholm und anderorts. Aber auch in die nähere Umgebung setzten sich dynamische Unternehmer ab, um ihre Produktion zu sichern. Wahrscheinlich überlebte die Bedeutung der Aachener Tuchfertigung überhaupt in jener Zeit geistiger Enge in Aachen nur, weil die technische Verflechtung der Aachener Tuchmacher mit der Umgebung, also mit Monschau, Imgenbroich, Eupen, Vaals, Stolberg, Laurensberg und Verviers so intensiv war. Diese Aachener Tuchgewerbelandschaft produzierte das "Aachener Tuch" mit Weltgeltung in gemeinsamer, arbeitsteiliger Handarbeit, die vom Verleger zentral "gemanaged" wurde (Einkauf der Wolle und Verkauf der Tuche auf internationalen Märkten). Verlagerungsbemühungen sind für diese Zeit symptomatisch. Noch vor Einführung der Gewerbefreiheit durch Napoleon (1798) zieht Johann Arnold von Clermont aus der Franzstraße 45/47 1765 um nach Vaals, wo er von Moretti eine nach damaligen Gesichtspunkten hochmoderne Tuchmanufaktur bauen lässt (die heutige Gemeindeverwaltung von Vaals). Nach Napoleons Zwischenspiel in Aachen, welches von seiner Herrschaft enorme Impulse hin zur Industrialisierung erhalten hat, zieht es 1813 den Tuchfabrikanten Kuetgens mit seiner neuen Tuchfabrik, die nach dem Modell von Clermont entstand (dreiflügelig), in die Wolfsfurth. Eine weitere Ansiedlung einer ganzen Tuchfabrik erlebt die Soers
gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der Errichtung der Tuchfabrik van Gülpen am Fuße des Lousbergs (heute Kloster St. Rafael). Typisch für die Attraktivität der unmittelbar am Wildbachlauf gelegenen Fabriken waren aber Teilproduktionsstätten wie Färbereien, Ausrüstungen oder Spinnereien, aber nicht ganze Tuchfabrikationen.
Obwohl der Wildbach nicht ganz so weiches Wasser führte, war es nach dem Stand der Technik für Färbereien kein Problem, mit dem Wildbachwasser Wolle (in Form gewalkter Stücke) zu färben. Vorläufer dieser Färbereien waren aber stets Walkmühlen, weil das Wollstückwalken äußerst kraftaufwendig war und ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Mühlen an Bächen mit  Fließkraft durchgeführt wurde. Diesen Weg von einer Mehlmahlmühle über eine Walkmühle hin zu einer Färberei gingen folgende Betriebe (vom Ursprung des Wildbachs in Seffent aus betrachtet):

a) Obere Schurzelter Mühle bis 1681 Mahlmühle; dann Kupfermühle; 1711 Papiermühle; 1744 Fellmühle ( Pelzherstellung ); 1745 Öl- und Walkmühle; 1810 Farbholzmühle; 1892 Färberei Fußgänger
b) Untere Schurzelter Mühle lange Zeit Mahlmühle; ab 1895 Färberei Bühl
c) Schleifmühle 1649 bis 1770 Walkmühle von Fellinger; ab 1828 Übernahme durch Walker Johann Wilhelm Wüller; bis 1868 Walkmühle (dann Spinnerei Wüller); ab 1958 Färberei Beckers & Schröder; 1968 bis 1973 Färberei Beckers; später u.a. Elektrowerkstatt Wüller
d) Stockheider Mühle ab 1788 Walkmühle von Coels; 1891 bis 1969 Färberei und später auch Appretur Theodor Rzehak; 1969 bis 1984 Färberei und Ausrüstung von Tuchfabrik Wilhelm Becker KG in Brand
e) Soerser Mühle am Soerser Haus 1740  Walkmühle; 1771 Walkmühle Schiffer; 1776 Soerser Mühle;1826 Nadel-, Schleif- und Spinnmühle (von Guaita); 1860 Spinnerei Lamberts & Gilljam; 1896-1979 Färberei P. Rouette & Söhne in Teilgebäuden (gegründet 1877 in Aachen-Forst); 1981-1998 Tuchfabrik Führen ( Färberei und Ausrüstung);
1894-1990 T. Sartorius Nachf., Kratzentuchfabrik (in Teilgebäuden) mit Wäscherei für selbst gewebte Baumwollstücke; gegründet 1876 in Aachen, 1892 dort ausgebrannt; ab 1894 im Besitz der Familie Hansen. Später Computer-Herstellung (u.a. Elsa).
 


Es ist bei dieser Vielzahl von Färbereien an einem Bachlauf ein wahres Wunder, dass der letzte (den bekanntlich "die Hunde beißen") noch in der Lage war, mit der ankommenden "Brühe" (Abwasser aller oberhalb liegenden Färbereien) ordnungsgemäß zu färben. Heutiges Know-how des "recycling" von Färbereiabwasser ("Färben auf stehendem Bad") ist gegen die damaligen Künste der Färber im Gebrauch von Abwasser als "Frisch"-Wasser  "ein Klacks". Man verstand es vor allem in den 60er Jahren, mit Hilfe der noch heute sichtbaren Stauweiher Mengenschwankungen der Wasserführung abzupuffern und die Qualität des Wassers in diesen Absetzbecken "aufzupolieren". An Abnahmekontingente, festgelegt in den Wassergerechtsamen hat sich damals kaum noch jemand gehalten; nur im Jahrzehnte langen Kampf gegen den Kanalanschlußzwang war man sich unter den Färbern am Wildbach trotz der Konkurrenz "bis auf´s Messer"  im Bollwerk gegen die Abwasserbehörde einig. Natürlich war es auch üblich, sich gegenseitig die besten Färber "abzuwerben". Preisabsprachen erfolgten allenfalls im Bereich des Einkaufs, wenn es galt, anstehende Farbstoffpreiserhöhungen abzuwehren. Alle genannten Färbereien waren Lohnfärbereien, die ohne Besitzanteil am Färbegut gegen Bezahlung für die Tuchweber färbten.

Spinnereien benötigen zum Verspinnen der Wollfasern feuchtes Klima in den Spinnsälen, das man früher nur durch Ansiedlung der Spinnproduktion in feuchten Gebieten (Soers: "la source" = die "Quelle" wegen vieler Tümpel infolge des lehmigen Bodens, die als Quellen falsch gedeutet wurden) oder an Bachläufen gewährleisten konnte.
Die Mühlen am Wildbach boten den Cockerillschen Spinnmasch-nen die erforderliche Wasserkraft zum Antrieb, wenn man noch nicht das Geld zum Erwerb einer Dampfmaschine besaß. Ab Einführung gemusterter Artikel installierten Spinnereien die nötige Wollflocke- und Wollgarn-Färberei (wie das auch die Lohnfärbereien mussten).
Folgende Spinnereien siedelten sich früher (Streichgarn) oder später (Kammgarn) am Wildbach an:

a) Wildbacher Mühle (Kaltrebalt-Mühle); ab 1753 Walkmühle; ab 1906 Spinnerei Wienands, Casteel und Giesen (aus Rheydt zugezogen);
heute Forellenzucht
b) Spinnerei Gilljam 1800 bis 1970 am Wildbach neben der Rathsmühle
c) Schleifmühle ab 1868 Spinnerei Wüller, 1827 bis 1934 Hühnerfarm, 1934 wieder Spinnerei Wüller, 1941 Hochbau-Brand, 1942 Produktion der Spinnerei in Shed-Bauten, nach 2. Weltkrieg auch Weberei Wüller, 1958 Ende der Produktion
d) Soerser Mühle1825 bis 1896 Spinnerei Gilljam
 
 

In der Soerser Mühle war seit Beginn dieses Jahrhunderts die Kratzentuchfabrik Sartorius tätig. Deren Bemühungen zum Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg schildert ein Bericht aus 1951:
"Frau Hansen macht sich sofort nach dem Zusammenbruch vom nach Mittweida in Sachsen ausgelagerten Betrieb in Richtung Aachen zu Fuß auf den Weg. Hier hatte nun die Kriegsfurie erhebliche Zerstörungen an der Fabrik angerichtet. Doch konnte, dank dem tatkräftigen Eingreifen des Meisters Knauf während der Evakuierungszeit das Schlimmste verhütet werden. Er hielt in dieser Zeit seine schützende Hand über Fabrik, Maschinen und noch vorhandene Rohstoffe; trotzdem waren Plünderungen nicht ganz abzuwehren. Auch durch direkten Artilleriebeschuss hatte die Fabrik eine Reihe von Treffern abbekommen. Eine Wiederaufnahme der Produktion erschien zunächst, bei dem in Aachen infolge der totalen Räumung besonders stark herrschenden Chaos fast unmöglich. Insbesondere war das Wiederingangbringen der Fabrik schwer. Zunächst galt es, für die Firma eine Arbeitserlaubnis seitens der Besatzungsbehörden (ein sogenanntes "Permit") zu erlangen, weiterhin die Maschinen, die teilweise durch Artilleriebeschuss schwer beschädigt und andererseits auch durch Witterungseinflüsse total unbrauchbar gewordenwaren, wieder anlaufen zu lassen. Ebenfalls musste die Zuteilung neuer Rohstoffe seitens der Behörden sichergestellt werden. Letzteres war besonders schwierig, weil durch die Zonenteilung Deutschlands wichtige Vorlieferanten (Filzfabriken) abgeschnitten waren und ein Handel über diese Zonengrenzen hinweg zunächst nicht möglich war. So mussten hierfür neue Lieferquellen gefunden werden. Dazu zählten vor allem die Filztuchfabriken Bosbach in Aachen. Die Produktionsgenehmigung wurde mit Datum vom 30. November 1945 seitens der zuständigen englischen Militärregierung erteilt. Bereits am 14. November 1945 lief das Werk, als einer der ersten Aachener Textilbetriebe nach dem Kriege, wieder an und konnte alsbald den Filzkratzentuchbedarf der wenigen, in der britischen Zone noch arbeitsfähigen genehmigten Kratzenfabriken (z.B. Schwartz auf der Lothringer Straße in Aachen) decken."

1990 stellte Sartorius den Betrieb wegen der hohen Umweltauflagen und der stark gestiegenen Arbeitskosten im Vergleich zur global tätigen Konkurrenz ein, nicht zuletzt, weil Kratzen klassischer Art durch Ganzstahlgarnituren ersetzt waren.

Kein einziger dieser Spezialbetriebe hat also in der Soers überlebt. Das Wasser des Wildbaches sprudelt heute ungenutzt und absolut klar in einem Bachbett, durch welches sich noch in den 70er Jahren ein täglich in der Farbe wechselndes Abwasser quälte. Nirgendwo ist der Strukturwandel in Aachens Textilindustrie besser abzulesen als am Gesicht des Wildbaches, weil er einer der wenigen, offen fließenden und nicht kanalisierten Aachener Bäche ist: Was früher "bunte" Wasservielfalt darstellte und dynamische Bemühungen des Überlebens einer Branche widerspiegelte, repräsentiert heute in seiner Wasserklarheit den erfolgten Klärungsprozess: Textilproduktion in Aachen überlebt nur in großen Einheiten ohne Arbeitsteilung mit der nötigen Kapitalausstattung und ohne ortsgebunden zu sein.